Theaterbesuch der J1
Corpus Delicti
Die Deutsch-Basiskurse der J1 besuchten gemeinsam mit den Lehrkräften Frau Grunert und Herrn Holik eine Inszenierung des JES von Juli Zehs Corpus Delicti.
Corpus Delicti ist ein Roman von Juli Zeh, der 2009 veröffentlicht wurde und auf dem gleichnahmigen Theaterstück basiert, das als 2007 als Auftragsarbeit für die Ruhrtriennale entstand. Zeh beschreibt darin eine futuristische, dystopische Welt, in der Gesundheit die oberste Priorität der gesamten Gesellschaft und des Staates ist. Dieses Staatssystem wird auch die METHODE genannt. Die Hauptfigur, Mia Holl, eine Biologin, ist anfangs fest von der METHODE überzeugt. Doch als ihr Bruder Moritz unerwartet verhaftet und verurteilt wird, obwohl er behauptet unschuldig zu sein und im weiteren Verlauf Suizid begeht, beginnt sie, die METHODE zu hinterfragen.
Die Inszenierung des JES überzeugte insgesamt durch eine gelungene Interpretation, besonders in der Darstellung von Mia Holl (Estelle Schmidlin). Anders als im Roman wurde ihre innere Zerrissenheit und ihr Widerstand gegen das System bereits von Anfang an sehr hervorgehoben. Außerdem wurde sie im Theaterstück patziger dargestellt und auch die Liebesbeziehung zu Kramer war nicht vorhanden. Diese Spannung hätte das dramatische Ende noch unterstrichen. Kramer (Johannes Nehlsen) und der Anwalt Rosentreter (Maximilian Schäuble) waren sowohl charakterlich als auch optisch gut getroffen und trugen maßgeblich zur Spannung bei. Positiv überraschte die ideale Geliebte (Laura-Sophie Warachewicz), die eine starke Bühnenpräsenz hatte und als Erzählerin Moritz Holls Abwesenheit gut ausglich. An manchen Stellen empfanden wir die ideale Geliebte allerdings als zu selbstbewusst, v.a. wenn man bedenkt, dass sie letztlich nur eine Vision darstellen soll.
Ein kleiner Kritikpunkt an der Ausstattung der Kostüme wäre das dritte Gefängnis-Outfit von Mia, das durch den gemütlichen Sweatstoff unpassend wirkte. Ein sterilerer, unbequemer Overall oder möglicherweise eine Zwangsjacke hätte hier besser gepasst.
Das Theaterstück war sehr kurzweilig und die 90 Minuten vergingen wie im Flug, was sicher auch an den vorgenommenen Kürzungen und Reduktionen lag. Beispielsweise wurden Mias Nachbarinnen, die auch im Roman eine eher untergeordnete Rolle spielen, herausgekürzt. Diese Begegnungen zwischen ihnen und Mia Holl erschien uns allerdings beim Lesen des Romans durchaus relevant, um den gesellschaftlichen Grundrahmen der METHODEN-Ideologie zu verstehen. Zusätzlich kam die Richterin Sophie ( Caro Mendelski) nur als Videofigur vor, wodurch sie nicht so persönlich und entgegenkommend wie im Roman wirkte.
In der Chronologie der Ereignisse folgte die Inszenierung dem Roman. Das Stück begann - ähnlich wie im Roman - mit dem Ende der Geschichte als kurzen Einblick, der direkt am Anfang des Theaterstücks für Spannung sorgte. Danach folgten die restlichen Szenen, abgesehen von einigen Auslassungen, in der richtigen chronologischen Reihenfolge. Eine Ausnahme bildeten nur die Rückblenden, in denen Mias Erinnerungen durch Videosequenzen dem Publikum vermittelt wurden. Diese Flashbacks zeigten ihren Bruder Moritz (Sebastian Brummer) als einen lebensfrohen, naturverbundenen Charakter. Im Stück würde er als sehr ruhig dargestellt wurde, wohingegen wir ihn im Roman als getriebener und hastiger interpretiert hatten.
Das Bühnenbild bestand aus einem dynamischen Boden aus verschiedenen Ebenen, der dem Zuschauer eine sterile und kalte Wirkung vermittelte und dem Bühnenbild Tiefe verlieh. Der Boden hatte durch Elemente wie einen ausklappbaren Esstisch oder ein ausklappbares Fahrrad auch praktische Funktionen. Dekoriert war die Bühne lediglich mit essenziellen Requisiten, wie zum Beispiel einem Fahrrad, einer Küchenzeile oder einem Sofa. Zusätzlich wurde die Bühne innovativ genutzt . Die „Wand“ in Mias Wohnung war gleichzeitig eine Leinwand, auf der Szenen digital in Form von Videos dargestellt wurden (z.B. Gerichtsszenen oder Rückblenden). Dazu waren drei Bildschirme am Rand der Bühne montiert, die ebenfalls Videos oder Effekte zeigten. Außerdem wurden Mias gesundheitliche Daten während ihrer sportlichen Aktivitäten auf den Boden projiziert.
Die Effekte, wie die voraufgezeichneten Videosequenzen von Moritz, waren allgemein sehr aufwändig gestaltet. Sie halfen in entsprechenden Situationen nachzuvollziehen, was Mia Holl dachte und warum sie wie handelte. Gemeinsam mit den Licht- und Soundeffekten, die aus hellen, blitzenden Lichtern oder lauten Geräuchen bestanden, sorgte dies für eine dramatische, sehr immersive Stimmung, die den Zuschauer auf einzigartige Weise in die Welt von Corpus Delicti mitgenommen hat.
Juli Zehs Werk greift aktuelle Themen auf. Es handelt von einer Gesundheitsdiktatur, die die Bürger streng überwacht und gesundes Verhalten zur Pflicht macht, um Gesundheit und ein langes Leben für alle Bürger zu gewährleisten. Auch wir stellen - ähnlich wie im Roman- modernen Technologien, wie z. B. Social-Media-Apps, immer mehr persönliche Daten zur Verfügung. Dadurch werden wir gläsernen, lassen uns zum gesundheitlich optimierten Bürger lenken und verzichten auf Privatsphäre. Getreu dem Motto: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.
Obwohl vor der Pandemie verfasst, thematisiert das Werk Themen wie staatliche Lenkung und Kontrolle, wie es temporär bei Pflichtimpfungen, Abstandsregeln und Gesundheitspässen der Fall war.
Der Theaterbesuch im "Jungen Ensemble Stuttgart" hat sich gelohnt und wir konnten die Romanlektüre gewinnbringend ergänzen. Wir danken unseren Lehrkräften für die Organisation und können einen Besuch der Inszenierung wärmstens empfehlen.
Fotograf: Jonas Knaab,
Stücktitel: Corpus delicti
Junges Ensemble Stuttgart